Mit Martin Grossen am Wellhorn (Adlerauge)


Seit Anfang Jahr spielte ich mit dem Gedanken, eine der eindrücklichsten und in einer imposanten Gletscher- und Gebirgswelt eingebetteten Sportkletter-Routen zu durchsteigen. Gestern ist der Traum in Erfüllung gegangen ....

Facts zur Tour (aus Schweiz Extrem von Jürg von Känel)

  • Ort: Wellhorn, zwischen Engelhörnern und Wetterhorn, direkt über dem Rosenlaui Gletscher mit Blick auf die Dossenhütte.
  • Route: Adlerauge, Wandhöhe bis Gipfel 686m, 20 Seillängen: 6a-6c, Anspruchsvolle Sportkletterroute von Kaspar Ochsner, Einstieg auf 2000müM, Gipfel auf 2686müM. Ausstieg aus der Route auf ca. 2600 müM, der restliche Aufstieg zum Gipfel in kombiniertem Gelände durch Traversierung von Bändern.

Und Los gehts

.... Am frühen Morgen um 02:00 des 16. August 2002 schrillt mich mein Wecker aus einem kurzen Schlaf. Die ganze Nacht war ich sehr nervös und angespannt. Etwas, das ich nicht mehr negativ werte, da dadurch meine Gedanken ganz auf das bevorstehende Ereignis fokussiert werden. Die Angespanntheit ist sehr gross, man fühlt sich wie ein Bogen einer Armbrust, nur die Tour kann die Spannung jetzt lösen. Schaffen wir es .... ? mein Partner: Martin Grossen, Bergführer und Sportkletter Crack aus Fahrni bei Thun. Martin zeichnet sich über eine ausgesprochene (Kletter) Ausdauer in hohen Schwierigkeiten aus. Er pflegt den Stil des "sauberen Kletterns", das heisst auch in schwierigsten Passagen (Schlüsselstellen) nie in einen Haken zu greifen.

Etwas schlaftrunken führt uns der Weg mit dem Auto bei sternenklarer Nacht nach Meiringen und von dort hinauf zur Rosenlaui, vorbei am romantischen und bekannten Hotel. Still ist es hier oben, die Sichel des Mondes begrüsst uns umgeben von Millionen von Sternen.

Die Stille des Morgens

Die Stirnlampe gesetzt, der Rucksack umgehängt gehts los, hinauf in Richtung Rosenlaui Gletscher über den Bergweg zur Dossenhütte. Oh, ich liebe diese Ruhe und Stille am Morgen, nur das Rauschen des Baches und der Lichtkegel der Stirnlame - das ist Leben. Wir sprechen nicht viel, ich bin angespannt und kann jetzt nicht über "Gott und die Welt" reden. Wir steigen höher und bald sind die Lichter im Tal erkennbar. Ein steifer Wind bläst uns vom Rosenlauigletscher entgegen, schemenhaft türmen sich plötzlich gezackte, wilde Gipfel zu unserer Linken - die Engelhörner. Am Horizont meldet sich der Tag, mit einem purpurfarbigen Rot / Orange und einem wolkenlosen Tag. Nach dem etwas mühsamen Aufstieg auf einer Schotterpiste stehen wir auf plattigen Felsen am Abbruch des Gletscher. Es ist nun bereits so hell, dass wir unser Tagesziel auf der rechten Seite in voller Gestalt erkennen können: Das kleine Wellhorn.

Wo ist der Einstieg ?

Es scheint, als ob wir heute die Einzigen sind, mit der Idee ins Adlerauge einzusteigen. Doch wir erkennen bald zwei Biwacksäcke neben einem Felsen, dessen Inhalt sich zu bewegen scheint - also doch keine Solotour? Durch den starken Rückzug des Gletschers und der dadurch geänderten Routenbeschreibung sowie der Dämmerung können wir den Einstig nicht sofort finden - kein Problem wir haben Vorsprung auf die Marschtabelle. Es ist kühl, ja kalt hier oben und meine Finger werden klamm. Endlich finden wir die kleine Adlerzeichnung am Einstieg, jetzt geht's also los.

Imposante Gletschwelt aus der Vogelperspektive

Das Ritual des sich Bereitmachens läuft bereits automatisiert ab, Expressschlingen einhängen, Achterknoten knüpfen, Sicherung prüfen. Doch bei dieser Tour kommt ein Utensil dazu, das normalerweise bei Sportklettertouren nicht mitkommt: Ein grösserer Rucksack mit 2 Liter Getränk, warmen Kleidern und Verpflegung für mindestens 12-15 Stunden. Sofort wiegt das Pack am Rücken 4-5 Kg, ein lästiges Ding in schweren Stellen.

Es ist nun hell und die imposante Gletscherwelt entfaltet ihre Pracht. Der oberste Bereich mit Blick auf das Rosenhorn ist bereits von der Sonne erfasst, der Zuckerguss des Gletschers erstrahlt in blendendem Weiss, herrlich!

Die erste Seillänge geht bereits voll zur Sache und die Charakteristik der gesamten Route kommt bereits hier zum Vorschein. Technisches Klettern, an kleinen Leisten und Griffen, kaum je senkrecht oder überhängend dafür umso mehr psychisch anspruchsvoll. Oft muss man sich voll und ganz auf die Reibung des Kletterschuh Gummis am Fels verlassen können um zum rettenden nächsten Haken zu gelangen. Etwas das ich eigentlich nicht besonders "liebe", ich bin eher der athletische Kletterer, der "stoziges" bis überhängendes Gelände bevorzugt wo Armkraft gefordert ist. Diese psychische "Schleicherei" löst bei mir jedes mal einen Adrenalin Schub aus.

Seillänge um Seillänge

Seillänge um Seilänge steigen wir empor, hoch konzentriert. Ich erkenne bald, dass ich hier wohl nur wenig vorsteigen kann. Die "leichten" Seillängen im Bereich 6a sind derart "grosszügig" abgesichert, dass heisst oft nur 3-4 Haken auf 30-40m, das erfordert eine sehr grosse Sicherheitslimite. Um es also gleich vorwegzunehmen, um das Adlerauge vorzusteigen muss man einen Schwierigkeitsgrad von mindestens 7b sicher beherrschen. Damit hat man die notwendige Reserve von einem Grad um auch mit einem Rucksack Stellen im Bereich 6c zu meistern. Mein Maximalgrad im Vorstieg liegt derzeit bei 6b, das heisst meine Vorstieg-Möglichkeiten in einer solchen Route liegen bei 5c, dies kommt hier unmissverständlich zum Vorschein!

Schwierige Einzelstellen

Längst sind wir nun in den wirklich schweren Stellen und mein Puls hat sich auf den Seillängen bald bei 160 - 170 eingependelt, ich fühle dies jeweils ganz genau. Zum Vergleich: beim Joggen kann ich meinen Puls noch maximal auf 165 treiben, doch nur für sehr kurze Zeit. Beim Klettern spielt die Psyche, neben der ganzheitlichen körperlichen Anstrengung eine zentrale Rolle. Dies beweisen schwierige Quergänge, welche voll auf Reibung gehen. Jemanden mit einer guten Psyche verkrampft sich nicht und kann das Körpergewicht derart clever auf die Schuhsolen bringen das dies hält und hält und hält - unglaublich. Verkrampft man sich aber so steht man wie ein "Ölgötz" am Berg und weiss nicht mehr vorwärts und rückwärts bis einem die blanke Angst packt und nicht mehr geht - da nützen auch tausende von geübten Klimmzügen und Liegestützen nichts mehr!

Die Luft und dem Hintern ist nun doch bereits beachtlich, direkt vis à vis von uns auf der anderen Seite des tief unter uns liegenden Gletschers erkennen wir die Dossenhütte auf einem Grat. Der Blick auf die umliegenden Gipfel zeigt, dass wir nun im oberen Bereich der Route sind und die Schwierigkeiten nehmen zu. Martin (Grossen) klebt in der wohl schwierigsten Schlüsselstellen der Wand, einem überhängenden Wulst auf kleinsten Tritten, darunter einen gähnende Leere. Hochkonzentriert gebe ich Zentimeter um Zentimeter Seil aus, mein Blick sieht nur noch seine Schlangengestalt am Fels, jede kleinste, falsche Seilsicherung kann jetzt zu einem "Ausheblen" führen. Dies ist die grosse Kunst des Sicherns: Seil geben ohne Zug und trotzdem sofort und sicher einen Sturz dynamisch abfangen. Das heisst, man wirft sich in Richtung des Vorsteigers und federt dadurch den Sturz ab. Harte Stürze können bereits zu Verletzungen führen ohne dass der Vorsteiger am Fels aufschlägt. Das ganze Geheimnis hinter dieser bewährten Praxis heisst: Verzögerung und wird überall eingesetzt. Man denke nur an den Airbag im Auto oder an die Äste eines Baumes. Viele Bohrhaken wären längst aus der Wand geflogen ohne diese Verzögerungstechnik.

Heikle letzte Seillängen

Mittag ist nun bereits vorbei, von Hunger weit und breit nichts zu spüren. Nur ein Schluck zum Trinken um den trockenen Hals zu beruhigen. Der Gipfel ist nun in guter Sichtweite. Die letzten zwei der 20 Seillängen sind nur noch eine 5 .... dafür vollkommen ohne eine einzige Zwischensicherung! Wer keine Friends (Klemmkeile) bei sich hat geht hier ein sehr grosses Risiko ein. Ja, dies ist der Charakter einer solchen Sportkletter Route im alpinen Gelände: Nur noch dort Sicherungen wo unbedingt nötig. Dies ist sicher kein Vorwurf an den Erbauer Chäppi Ochsner, man muss sich nur mal den Aufwand vorstellen um alle 2-3 Meter in einer 600m Wand eine Sicherung anzubringen - unmöglich, also NICHTS für Plaisir Kletterer!

Bis zum Gipfel

Zirka 100m unterhalb des Gipfels steigen wir aus der Route aus, glücklich es geschafft zu haben. Viele Seilschaften sehen diesen Punkt gar nie. Doch nun absteigen ohne auf dem Gipfel gestanden zu haben - Martin das kannst du mit mir nicht machen! Martin (Grossen) ist nun doch etwas überrumpelt von meiner irrigen Vorstellung den Gipfel nun noch auf dem kombinierten Gelände im Bereich 2-4 zu erklimmen. Doch aufgrund meines absolvierten "Eiger-Trainings" willigt er dem Unterfangen zu. Wir steigen über Bänder und loses Gestein hoch, jetzt ungesichert und jeder für sich verantwortlich. Auf dem Gipfel ein imposanter Rundblick vom Wetterhorn zur Grossen Scheidegg über den Rosengletscher zur Dossenhütte. Hier oben findet man kein Gipfelbuch mehr, dies ist 100m unter dem Gipfel ...

Glücksgefühle

Nach einem vorsichtigen Abstieg, oder sagen wir vielleicht besser Rückzug erreichen wir um 18:00 Uhr wieder den Austiegspunkt aus der Route. Nun geht alles automatisiert, das Abseilen haben wir im Griff. Fädeln, Brusik anbringen Abrauschen, Umhängen alles geht reibungslos. Langsam schweben wir wieder in die Zivilisation zurück. Ohne Seilabziehklemmer erreichen wir bei Dämmerung den Gletscher - eine unendliche Entspannung macht sich bei mir breit und auch in Martin Gesicht erkenne ich nun nur noch weiche Züge. In vollkommener innerlicher Zufriedenheit erreichen wir um 21:30 unseren Ausgangspunkt Rosenlaui. Dieses Glücksgefühl der Zufriedenheit nach einer solchen Tour kann ich nicht beschreiben, ich weiss aber das es zur Sucht werden kann.

A propos Sucht, neue Pläne werden oft auf Heimreisen von grossen Touren geschmiedet ... wie wärs denn mit dem Wetterhornpfeiler, bist Du schon mal dort gewesen, wäre das etwas für uns ..... ?

Seftigen, 17. August 2002, Martin Zahn