Im Reich der Eiszapfen und Eissäulen


Nach meinem Eiskletter Abenteuer mit Stephan Siegrist letztes Jahr (Stechelberg - Gimmelwald) und einem Intensiv Eiskletterkurs mit Ueli Kämpf in Kandersteg war ich für eine grosse, klassische Eistour bereit. Am wohl kältesten Samstag in diesem Jahr 2003 haben wir (Martin Grossen und ich) die Gelegenheit wahrgenommen.

Die Route

Im Gebiet Oeschiwald in Kandersteg sind leichte Eisfälle, neben schweren Extremklassikern anzutreffen. Dieser Sektor ist sehr bekannt und beliebt, so dass an einem Spitzentag eine vorsichtige Routenwahl angebracht ist, um sich oder andere Seilschaften nicht zu gefährden.

Zu den Extremklassikern zählt sicher die Haifischzahn Route. Wie bereits der Routenname erahnen lässt, handelt es sich um ein wildes Durcheinander von freihängenden Eiszapfen und Säulen. Die zwei markantesten Säulen sind zusammengewachsen, dies erfolgt dadurch, dass Wasser langsam und kontinuierlich an den steilen, teils überhängenden Felsen herunterrinnt und dabei gefriert. Ein Teil des Wassers tropft auf den Boden, dadurch baut sich ein Eiskegel auf, der dann mit der herunter wachsenden Säule zusammenwachsen kann. Die Bilder in diesem Beitrag stammen nicht aus Kandersteg (sorry, es war bei -20 Grad einfach zu kalt um zu fotografieren). Sie zeigen jedoch die typische Formation welche den Haifischzähnen sehr ähnlich ist.

Es braucht sicher eine gute Portion Selbstvertrauen, um sein Leben an solche Eissäule zu "hängen". Doch mit der Erfahrung in leichteren Routen gewinnt man bald die notwendige Sicherheit und Ruhe um sich in dieser agilen Umgebung fortzubewegen.

Die Kälte

Die Nacht vom Freitag 31.01.03 auf den Samstag 01.02.03 ist sternenklar und sehr kalt. Mir ist klar, was mich am Samstag erwarten wird, 7-8 Stunden im Eis und dauernd auf der "Schattseite" - Eisfälle bilden sich bekanntlich nur an kalten, schattigen Felsen. Auf der Fahrt zwischen Seftigen und Uetendorf zeigt das Aussenthermometer bereits -18 Grad. Was wird uns wohl in Kandersteg erwarten, diesem Kältesee, eingeklemmt zwischen Felswänden und rar an Sonne im Winter?

Das Schichtenprinzip

Frieren ist nicht das Ergebnis von Kälte, sondern von ungeeigneter Bekleidung. Dass diese Binsenwahrheit eines Freundes nicht ganz stimmt, sollte ich heute noch schmerzhaft erfahren. Trotzdem, mit dem bewährten Dreischichten Prinzip kann man sich sehr gut schützen. Die unterste Schicht muss aus durchlässigen Kunstfasern sein, damit Schweiss von der Haut wegtransportiert wird an die nächste Schicht. Die zweite Hülle übernimmt die Funktion der Wärmebarriere. Modernes Gewebe, sogenanntes Polarfleeche übernimmt diese Rolle hervorragend. Die äusserste Schicht besteht immer aus leichtem Goretex um Wasser auf gar keinen Fall eindringen zu lassen.

Eisklettern - ein Sport für Frühaufsteher

In Eiskletterrouten, die entlang von Zapfen und Säulen führen können sich unmöglich mehrere Seilschaften tummeln. Dies wäre für die Nachsteiger viel zu gefährlich, da das absplitternde Eis aus einer Höhe von 20 - 30m zu Geschossen wird. Das heisst also, früh aufstehen und hoffen, dass nicht bereits eine andere Seilschaft am Einstieg biwakiert hat. Das dieser simple Grundsatz offenbar nicht allen Eiskletterern bekannt ist, mussten wir leider an diesem Tag erfahren und prompt stellten sich einige sehr heikle und gefährliche Situationen ein, die man mit etwas Vernunft und Anstand hätte vermeiden können. Kurz nach der Tagshelle treffen wir in Kandersteg ein und wir treffen unsere Route (noch) verlassen an. Nun muss rasch gehandelt werden, Klettergurt umschnallen, Steigeisen montieren, Eisschrauben und Sicherungsschlingen einklinken. Wir, entschliessen uns dazu, dass beide einen leichten Rucksack mitnehmen. Ich stopfe meine Daunenjacke und eine Toblerohne hinein. Es ist verflixt kalt, man kann die Handschuhe kaum eine Minute ausziehen und schon hat man klamme Finger. Nebelschwaden schleichen durch den Öschiwald, ein gespenstiger Anblick, der jedoch gerade richtig ist um Herzschlag und Anspannung etwas zu beruhigen.

Sprödes Eis - anstrengende Schlagarbeit

Durch die enorme Kälte (zwischen -20 und -25 Grad) sind die äussersten Eisschichten extrem spröde geworden. Beim ersten Schlag, der bei guten Bedingungen normalerweise ausreicht, löst sich heute jedoch meist eine 30-50 cm grosse Platte, die donnernd in die Tiefe stürzt. Das blanke, blau-weiss gefärbte Eis der tieferen Schichten ist griffig und bietet genügend Sicherheit um sich an den Eisgeräten hochzuziehen. Das Eindrehen der Eisschrauben durch die harte, spröde Schicht ist wieder richtige Knochenarbeit und geht an die Kraft. Die erste Seillänge ist nicht senkrecht und leicht gestuft, eine Freude hier hochzuklettern. Trotz der Kälte wird man rasch warm und man muss sich zügeln um nicht zu schwitzen. Meine Handschuhe erweisen sich aber bald als kompletter Fehlgriff, ich fühle meine Finger immer weniger, ein Anzeichen, dass sich diese in weisse, blutleere Glieder zu wandeln beginnen. Doch was solls, mein Herz ist warm und ich will hinauf, also nun nur keine negativen Gedanken aufkommen lassen.

Der bequemste Stand der Welt

Nach der ersten Seillänge und der Überwindung einer leichten Stufe gelangen Martin und ich schliesslich an den eigentlichen Einstieg in die Haifischzahn Route. Ich bin überwältigt von der bizarren Märchenlandschaft hier oben. Welcher Unterschied - im Tal unten Kandersteg, ruhig und verschlafen. Mancher wird sich wohl zu dieser Zeit nochmals unter der warmen Bettdecke räkeln und wir hier nur wenige Kilometer entfernt in einer ganz anderen, verzauberten Welt. Umgeben von freihängenden Zapfen, teils glasig durchsichtig, teils braun und abweisend. Der Stand befindet sich hinter einer mächtigen Eissäule der ersten "richtigen" Seillänge in einer kleinen Höhle. Ja, wirklich bequem ist es hier und man könnte es sich gemütlich machen, wäre es nicht so bitterkalt. Die Säule ist unten geteilt mit einem Schlitz in der Mitte, dadurch kann man knapp den Kopf hindurchstecken - dabei entdecke ich zwei weitere "Verfolger", die gerade die Stufe, welche unter uns liegt überwinden. Ich mache mir keine grossen Sorgen darüber, ich gehe davon aus, dass die Beiden eine andere Linie wählen. Derweil steigt Martin ins eigentliche Abenteuer Haifischzähne ein, indem er um die Säule herumklettert und so aus meinem Blickfeld verschwindet. Ich höre nur noch das dumpfe Schlagen seiner Eisgeräte und das Knirschen der Eisschrauben irgendwo da draussen. Mich erinnert dies an den Zahnarzt, wenn dieser an einem Zahn herumbohrt und man dabei "in sich hineinhört". Plötzlich werden Stimmen laut, die beiden welschen Kollegen steigen unmittelbar unter mir empor und gesellen sich zu mir. Ich bin nun etwas irritiert und verunsichert, wie soll ich reagieren? Positiv denken, also freundlich grüssen und hoffen, dass sie die Aussichtslosigkeit einer Überholung oder eines gleichzeitigen Nachstiegs einsehen. Ich bemühe mich ruhig zu bleiben und versuche mich auf meine Arbeit, dem Sichern von Martin, der wohl nun bald den Stand erreichen würde, zu konzentrieren. Und dann das - der jüngere der Beiden steigt ebenfalls ein, offenbar wollen sie uns an dieser fragilen Säule überholen - was soll denn dies? Sie kommen aus Lausanne und haben eine lange Anreise hinter sich, trotzdem: Dies kann doch kein Grund sein für ein solches unverantwortbares Verhalten!

Harte Seillänge

Mittlerweile hat Martin den Stand erreicht und gibt mir das Zeichen zum Nachstieg. Meine Gedanken rasen nun und ich bin gestresst. Soll ich wirklich nachsteigen und mich allenfalls erschlagen lassen? Vorsichtig klettere ich auf die Aussenseite der Säule und sogleich erwartet mich ein Eisbrockengewitter - NEIN, so steige ich nicht nach. Leider habe ich keinen Sichtkontakt zu Martin und kann ihn über die Situation nicht verständigen. Glücklicherweise erblickt er nun den welschen Kletterer und ihm ist sofort klar was hier abläuft. Ein kurzer und heftiger Wortwechsel klärt die Situation - der "Welsche" muss stoppen und sich an einer Eisschraube sichern. Ein Überholen wäre viel zu riskant, zudem macht er nicht den Eindruck eines Cracks, er steigt sehr langsam und kennt die Route nicht - wie unvernünftig!

Nun kann ich starten, halb durchfroren durch die Warterei. Seinem Kollegen habe ich meine Daunenjacke angeboten, dadurch kühlte ich in den 10 Minuten des Warten total aus. Die Seillänge ist wirklich brutal - senkrechtes Eis und tropfendes Wasser. Kaum eingestiegen, bin ich schon nass und sofort sehe ich aus wie ein paniertes Schnitzel, das man aus der Tiefkühltruhe nimmt. Positiv denken - also los, die Eisschrauben, welche ich nun im Nachstieg herausschrauben muss, lassen sich kaum mehr drehen. Zudem sind die Expressschlingen derart gefroren, dass ich das Seil nicht mehr aushängen kann. Mit klammen Fingern hänge ich eine andere Eisschrauben von meinem Klettergurt aus und hämmere wie wild auf das festgefrorene Ding. Endlich kann ich das Seil aushängen und die Eisschrauben herausdrehen - ich bin fix und fertig! Doch das war nur der Anfang, weitere 10 Schrauben warten auf mich. Ich benötige sicher mehr als 30 Minuten für diese Seillänge, die Finger spüre ich schon lange nicht mehr - Misthandschuhe! Oben am Stand erfasst mich ein unsäglicher Schmerz in den Fingern, das Blut schiesst vom erhitzen Körperinnern in die unterkühlte Peripherie - das "Nageln" ist kaum auszuhalten. Ich krümme mich vor Schmerzen, und zähle langsam von 0 auf 30, nach endlosen Minuten lässt der Schmerz nach und meine Finger sind warm ... dies bei -20 Grad. Ich erinnere mich jetzt an eine Aussage meines Freundes Raymond Messerli: "Z'Bärg gah isch nüt für weichi Eier ...", wie recht er doch hat in dieser Situation.

Drei Kletterer am Eisschraubenstand

Nach dem Materialwechsel von meinem Klettergurt an Martins Gurt steigt er sogleich weiter um den welschen Freunden klar und deutlich zu zeigen, dass hier ein Überholen unmöglich ist. Der Vorsteiger der "welschen" Seilschaft hat die schwierige Kletterei unter mir wieder aufgenommen. Ich vernehme Keuchen und Fluchen, er ist am Anschlag. Ich mache mir nun wirklich ernsthafte Sorgen, Martin oben in sehr fragilem Eis und unten ein Kampf auf Biegen und Brechen, ich selbst halb hängend an einem Zahn des Haifisches. Unwohlsein steigt nun in mir empor und ich bin nahe daran Martin zuzurufen die "Übung abzubrechen" und abzuseilen, doch ich beherrsche mich. Ich lasse dem welschen Freund ein Seil zur Steighilfe hinunter indem ich es mit einem Mastwurf am Stand befestige. Endlich kriecht er in den Stand, kreidenweiss. Ich versichere mich, dass er sich ordentlich sichert. Doch anstatt zu warten, drängt sein Kollege nachzusteigen, bald sind wir also zu dritt an einem unbequemen Stand, gesichert an Eisschrauben an der Säule - welche eine Unvernunft. Man muss wissen, dass Eis bei diesen Temperaturen äusserst spröde ist, hält es also die Belastung von drei Mann aus? Ich möchte diesen Ort unbedingt rasch verlassen.

Ruhig Blut

Martin steigt die weitere, lange Seillänge sicher hoch. Wasser läuft hier zum Glück nicht mehr, dafür ist das Eis umso härter. Einige Eisschrauben lassen sich nicht mehr ganz eindrehen. Nach einer schwierigen Querung folgt endlich leichteres Eis und ich kann flott Seil ausgeben. "Stand" ertönt es bald von oben und ich steige entschlossen hoch. Ich biete meinen Freunden an, unsere Eisschrauben stecken zu lassen, ja welchen Sinn macht es denn jetzt, unsere rauszudrehen und sie müssen ihre wieder reindrehen. Dankend nehmen sie mein Angebot entgegen. Nach einem weiteren brutalen "Nageln" meiner Finger am obersten Stand haben wir es geschafft. Diplomatisch teile ich Martin mit, dass unsere Eisschrauben noch unten sind. Verständlicherweise zeigt er sich nicht begeistert, ist jedoch einverstanden - "Ende Gut alles Gut". Nach dem Nachlassen der Schmerzen in den Fingern erfüllt mich wieder dieses bekannte Glücksgefühl in der "Geborgenheit". Nach der Warterei durchwaten wir den winterlich verschneiten Wald unterhalb der Doldenhornhütte und bahnen uns eine Spur durch den meterhohen Schnee. Ich selbst bin innerlich etwas stolz, obwohl ich nicht vorgestiegen bin (dies wäre jedoch durchaus möglich gewesen). Mein Stolz liegt eher darin begründet, dass ich eine sehr heikle und angespannte Stresssituation im Interesse aller Beteiligten ruhig und besonnen bewältigt habe.

Doch noch eine Enttäuschung

Nachdem wir die Abseilstelle im tiefen Schnee nach etwas Zeit gemeinsam finden, lassen wir unseren Freunden den Vortritt. Unsere Seile sind bereits im Rucksack versorgt - wir gehen davon aus, dass wir nun alle an den gleichen Seilen abseilen werden. Welch eine Enttäuschung - unsere Freunde ziehen ohne zu zögern ihr Seil ab und machen sich aus dem Staub. Welche Arroganz, ich finde solches Verhalten, jetzt wo keiner mehr unter Druck ist mehr als verwerflich - schade!

Trotzdem, ich bin eine Erfahrung reicher und die Tour hat sich als schöne Erinnerung in meinen Hirnwindungen verankert - Martin, Danke für das Erlebnis und bis Bald.

Seftigen, 9. Februar 2003, Martin Zahn